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2010 Master WM Brasilien

8. September 2010 in Rennen und Events

 
UCI MTB Masters Worldchampionship
Balneário Camboriú (BRA) // 07.09. – 12.09.2010

Ich stehe im Ziel. Warte auf den Franzosen. Er war im Qualifying 5 Sek. Schneller als ich.

Endlich fährt er durch die Lichtschranke. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis der Sprecher auf Portugiesisch verkündet:

"Der neue Weltmeister in der Klasse + 50: Stephan Mangelsdorff."

Später erzählt mir Neil – ein schottischer Fahrer, dass er meinen Schrei über 250 m höher am Start noch hören konnte.

Zwei Wochen vorher.
Ich sitze seit über 2 Stunden auf dem Rennrad, habe gerade 16 Intervalle à 15 Sek. hinter mir. Es fängt mal wieder an zu regnen und noch 15 Km bis nach Hause. Rennradfahren ist eh nicht meine Lieblingsbeschäftigung und der Regen hilft auch nicht gerade – aber ich habe ein Ziel: Ich will zur Masters WM nach Brasilien. Ich will eine Medaille. Also scheiß aufs Wetter und weiter kurbeln.
Am nächsten Tag stehen 15 Runs in Winterberg auf dem Trainingsplan. Patrick Kühnel, der Leiter des Bikeparks, sagt mir am Telefon, dass dort die Welt unter geht. Also nach Thale. Dort ist es nur von unten nass und das Streckenprofil ist dem der WM sehr ähnlich. Daniel vom brasilianischen Internet Fernsehen RootRider.TV hat mir schon Anfang des Jahres ein Video der Strecke zum Download zur Verfügung gestellt. Das habe ich seitdem ungefähr 100-mal gesehen. Und weiß, dass auf dem Track zwei heftige Tretpassagen sind.

Nach dem 8. Run auf der Roßtrappe bin ich total platt, quäle mich trotzdem noch weitere 4-mal Anschlag über die Strecke und stürze in er Kurve vor dem Roadgap – Gott sei Dank nur leichte Prellungen. Dem Nacken ist nichts passiert.
Ich hatte letztes Jahr im Dezember einen Bandscheibenvorfall am 4/5 Halswirbel. Die Bandscheibe steckt 15mm im Rückenmark. Wenn ich den Kopf in den Nacken nehme, verliere ich die Kontrolle über meinen linken Arm. Versucht mal, ohne den Kopf zu heben, eine Downhillstrecke zu fahren. Deshalb war ich den ganzen Winter nicht im Gelände. Nur auf dem Rennrad. Mit hohem Lenker wegen der Bandscheibe Sieht nicht gerade heldenhaft aus, hilft aber. 2-mal in der Woche Physiotherapie. Meine Therapeutin Viola ist großartig. Sie hat magische Hände und maßgeblich dazu beigetragen, dass ich seit Mai wieder ins Gelände kann.
Am Anfang mit vielen Problemen aber dann läuft es von Woche zu Woche besser. Tommy Ziegler, der ehemalige Telekom Profi, trainiert mich. Konkret sieht eine Woche kurz vor der WM so aus: 2 x Bikepark, 4 x Rennrad, 2 x Mucki Bude, 2 x Physiotherapie. Die Woche hat nur 7 Tage.
Ich habe mit meiner Freundin, die 300 Km entfernt wohnt eine 2 jährige Tochter. Einen Job, der mich sehr fordert und noch einen 18 jährigen Sohn. Alles unter einen Hut zu bekommen ist unmöglich.
Die letzten Tage vor der WM werden ruhiger. Weniger Training, dafür letzte Abstimmung am Downhiller und packen.

Lufthansa von Hannover nach Frankfurt.
Dort treffe ich Markus Ruth. Er fährt wie ich für die Soulrider. Mit der brasilianischen Airline Tam geht es über Sao Paulo nach Navegantes.

Überall im Flieger bildhübsche Brasilianerinnen. Nur neben mir eine 60 jährige, die es mit der Körperhygiene nicht so genau nimmt. Nach einer Dreiviertelstunde fängt sie an zu schnarchen. Na toll! Nach 12,5 Stunden neben der Grazie bin ich restlos bedient. Insgesamt sind wir 27 Stunden unterwegs.
Alexandro holt uns am Airport ab. Ihm gehört die Bungalowanlage in der wir wohnen. Markus hat alles organisiert. Unser Appartement ist großartig. In der Anlage wohnen außer uns noch ungefähr 20 Chilenische, Argentinische, Dänische, Venezolanische und Schweizer Racer. Tolle Atmosphäre.
Auch unser örtliches Soulrider Stuff Car steht schon bereit. Ein 15 Jahre alter Citroen Xiara. Zumindest funktionieren der Motor und die Bremsen. Der Rest eher nicht. Tausend Euro für 14 Tage. Es gibt nichts anderes mehr zur WM. Man kann nicht immer gewinnen.
Abendessen in der Anlage. Mario aus Argentinien kocht. Lecker. Wir loben ihn. Er nimmt uns dafür in den Arm – leichte Irritation. Die nächsten Tage loben wir weniger, werden aber trotzdem regelmäßig in den Arm genommen.
Die Chilenen sitzen bei der Videoanalyse der Strecke vor dem Laptop. Sie sind schon seit ein paar Tagen da und fahren mit Helmkamera. Sehr professionell. Und sehr sympathisch. Coole Truppe.

Montag vor dem Rennen.
Die Seilbahn nimmt keine Downhiller mit. Die Argentinier erklären uns, dass die Strecke offen ist und man shutteln kann. Also die Bikes ins Soulrider Stuff Car und auf den Kurs. Markus fährt mit 45 Km/h die Landstraße an der Küste entlang. Ab dem nächsten Tag fahre ich.
Auf dem Bike ist er schneller. Deutlich. Oben auf dem Berg stehen ungefähr ein dutzend fette Pick – Ups mit Allradantrieb. Wir kommen mit dem Citroen gerade so den Berg hoch. Mitleidige Blicke. Es geht auf die Strecke. Endlich. Sie ist wesentlich technischer und steiler als es auf dem Video aussah. Die beiden Tretpassagen sind heftig. Markus hat Schnappatmung. Er konnte die letzten beiden Wochen wegen einer Bronchitis nicht trainieren. Nach zwei Runs ist er am Ende und will nach Hause. Ich bin gerade warm geworden und hoch motiviert. Aber wir haben noch genug zeit zum trainieren.
Abends essen in der Stadt. Eine Brasilianerin gibt mir Ihre Handynummer. Schon älter, aber attraktiv. Ich gebe ihre Nummer an Markus weiter. Er trifft sich später mit ihr. Die nächsten Tage verschwindet das Grinsen selten aus seinem Gesicht.

Am Dienstag Einschreiben und Streckenbegehung.
Der Chilenische Fotograf verstaucht sich schon zu Fuß die Hüfte. Das Starthäuschen ist schon gebaut. Von dort leichte Linkskurve in den Wald, zwei kleine Drops, kleiner Double ca. 100m Tretpassage in der Ebene und dann ein 6m Double. Im Laufe des Trainings bekommt er von den Brasilianern den Namen:„ Schlüsselbein-Double“. Für Markus und mich ist er der Kronjuwelendouble. Aber ich habe ja schon zwei Kinder. Danach ungefähr 100m Gegenanstieg mit einem netten Stein- und Wurzelfeld am Ende. Wer dort mit Schrittgeschwindigkeit ankommt, hat verloren. Dann wird’s immer steiler und technischer. Dagegen war die Strecke voriges Jahr in Frankreich Kindergeburtstag – kurz vor dem Zielhang noch ein langer Sprung über die Hinkelsteine. Hier gehen in den nächsten Tagen einige Fahrer ins Krankenhaus.
Abends service ich noch mal Claudia. So heißt mein Intense 951. Cane Creek Double Barrel Titan Dämpfer. Viel leichtes Zeug – Federweg auf 200mm eingestellt und mittlerer Radstand. Claudia geht wie die Hölle. Ich bin schon sehr viele Bikes gefahren. Aber noch keines, was besser war.
Das Saint Schaltwerk zickt ein bisschen mit der Dura Ace Kassette. Shimano Brasilien hat einen Servicestand an der Stecke. Eduardo nimmt den Adapter zur Anschlagverkürzung aus der Schaltung. Wieder was dazugelernt.

Mittwoch der erste offizielle Trainingstag.
Markus trödelt. Ich drängele. Als wir kurz vor 10 an der Strecke sind, ist das Training für die Frauen und Männe rüber 45 gerade vorbei. Die UCI hat erst morgens den Aushang mit den Gruppeneinteilungen ans schwarze Brett gehängt. Ich schummele mich noch schnell für einen Run auf den Kurs. Den Streckenverlauf habe ich bereits im Kopf, aber die großen Sprünge sind heftig und müssen noch ein wenig warten. Nachmittags sind wir dann pünktlich – kaum Wartezeiten an der Seilbahn, tolle Atmosphäre.
Ich probiere noch mal die Sprünge. Beim großen Double schlage ich mit dem Hinterrad ein, beim großen Steindrop lande ich so hart im Flat, dass ich die Strecke nach links verlasse. Mein Hochgefühl ist schlagartig verschwunden. Den Sprung über die Hinkelsteine lasse ich dann aus. Hier werden die coolen Fotos gemacht.
Ich probiere eine Linie links an den Hinkelsteinen vorbei, die Anlieger Linkskurve komplett auslassend. Die Linie ist ca. 8-10m kürzer und man kommt direkt in die nächste Rechtskurve. Hier ist mal der Chicken Way schneller als die Big Balls Route. Abendessen in der Appartementanlage. Diesmal versucht Mario mich zu küssen. Ich tauche elegant ab und gehe Claudia waschen.

Donnerstagmorgen.
Ich frage Damian Smith ahnungslos wie er geschlafen hat. Sein Blick ist leicht irrsinnig als es aus ihm heraus bricht: Er wollte mit Jaymie Mart, die in Barbados lebt, abends noch mal die Strecke abgehen. Also in die Seilbahn, leicht verwundert, dass kein Personal mehr da ist. Auf der halben Strecke – ca. 120 m über dem Meer bleibt die Gondel stehen. Feierabend. Keine Notrufnummer. Anrufe in Amerika. Von dort versucht man die Seilbahn in Brasilien zu erreichen. Die Polizei. Die Feuerwehr. Vergeblich. 13 Stunden sind die beiden in der Gondel.
Ich befrage Damian nach sanitären Einzelheiten. Jaymie hat ihre Meldeunterlagen zu einem Trichter geformt, während Damian die Tür einen Spalt weit aufgedrückt hat. So blieben die Füße trocken und es roch morgens noch einigermaßen erträglich in der Kabine. Respekt! Später werden beide in Ihren Klassen Vizeweltmeister.

Beim Training werden die Runs langsam flüssiger, aber der große Double sitzt immer noch nicht.
Beim Abendessen haben die Chilenen alle Ihre Macs dabei. Sie fahren fast alle mit Helmkameras und analysieren abends die Linien und Zeiten. Top Professionell die Jungs und Mädels und dazu noch sehr sympathisch und hilfsbereit.

Freitag Qualifying.
Morgens noch mal auf die Strecke. Dann, umsonst, Massage von den brasilianischen Chicas – großartig. Der Strand ist ca. 200m vom Ziel entfernt. Lecker Mittagessen und noch ein bisschen in der Sonne relaxen. Dann geht’s zum Qualifying. Ich trete an. Fühle mich gut. Drücke beim großen Double zu sehr ab, mache einen One-Footer, ramme mir voll den Sattel in meine Familienplanung und fahre rechts neben der Strecke in die Büsche. Oops. Schnell wieder antreten. Der restliche Run ist ok.
Im Ziel die Überraschung. Trotz des groben Schnitzers Zweiter. Ich spüre, dass es morgen etwas werden kann. Für das Rennen ist Regen angesagt. Klasse. Ich weiß, dass ich im Regen schnell bin. Die Südamerikaner sind überhaupt nicht begeistert.
Sie kaufen Wetscreams.

Samstag Rennen.
Am nächsten Morgen mache ich einen Regentanz. Das nette Verhältnis zu den Chilenen wird schlagartig frostiger. Juanjo, der später in seiner Klasse trotz Sturz dritter wird, erzählt mir, er wäre noch nie im Regen gefahren. Doch es bleibt trotz schwarzem Himmel trocken. Mit dem Lift geht es zum Start. Jeder einzelne aus unserer Altersklasse (von ursprünglich 22 sind nur noch 10 übrig geblieben) wünscht den anderen Glück. Auf Spanisch, Portugiesisch und Englisch. Und alle meinen es von ganzem Herzen ehrlich. Allein dieser Moment war die ganzen Trainingsstrapazen der letzten 9 Monate wert.
Dann ist es soweit. Ich stehe in der Startbox. Auch die hübsche brasilianische UCI Funktionärin wünscht mir alles Gute. Zählt dann den Countdown. Antritt. Mein „951“ springt förmlich durch die Zeitmessanlage. Ich habe gute Beine, kurbele am Anschlag, nehme die Strecke wie in Zeitlupe wahr.
Jede Kurve auf der Ideallinie, der große Double sauber in die Landung. Der Gegenanstieg mit dem tückischen Steinfeld mit Warp 9. Alles passt. Ich denke nicht einmal daran, dass ich eine Weltmeisterschaft fahre, freue mich nur unbändig darüber wie mein Bike, die Strecke und ich zusammen passen.

Es ist der Run meines Lebens. Und ich werde Weltmeister.